Neben unseren allgemein bekannten fünf Sinnen „Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken" gibt es einen sechsten Sinn. Dies ist unser Körpersinn: Der Sinn für die Lage und Bewegung unseres Körpers in Bezug zur (Um-)Welt.
Wie elementar dieser Sinn für unser (Über-)Leben ist, wird uns nur sehr selten bewusst - allenfalls z.B. ein anhaltender Schwindel, der den Alltag massiv beeinträchtigt, macht uns aufmerksam. Ohne den Körpersinn könnten wir jedoch weder gehen, noch uns anderweitig (fort-)bewegen, und auch ein Agieren im Dunkeln wäre unmöglich. Über den eigenen Körper stellt der Körpersinn den Bezug unseres Selbst zur Welt her: Wir spüren, wie wir einen Arm vom Rumpf heben, worauf wir unsere Füße stellen, worauf wir uns setzen, wie schwer ein Gegenstand ist, wie dessen Einwirkung auf unser Gleichgewicht ist - sprich wie wir Bewegung allgemein und speziell – „einschätzen" müssen.
Mittels Körperarbeit sprechen wir alle sechs Sinne an, insbesondere aber natürlich über das Bewusstsein für unseren Körper den Körpersinn.
Mit dem Begriff „unsere Sinne“ verbinden wir zunächst unsere Sinnesorgane und damit die mittels dieser erfolgenden Wahrnehmungen, so dient z.B. das Auge zum Sehen. Gleichzeitig haben unsere Sinne natürlich auch die Funktion, dem, was wir wahrnehmen*, eine Bedeutung zu geben - sie sind „sinnstiftend“. Hierzu sind Abgleiche mit dem, was wir schon erlebt, gelernt und erfahren haben, erforderlich. Ein erfolgreiches Abgleichen setzt voraus, dass wir unsere Wahrnehmungen (Erfahrungen) als Muster „abgespeichert" haben. So benötigt das Sehen Bilder von Vergleichsobjekten in uns, damit wir erkennen können, ob es sich bei dem, was wir wahrnehmen, um z.B. einen Baum oder ein Haus handelt. Zusammenfassend benötigt ein Sinn also eine Wahrnehmungskomponente, die wir üblicherweise als Sinnesorgan bezeichnen, und zum Erkennen eine Speicherkomponente oder besser eine Art Erfahrungsgedächtnis, in dem unsere Sinneswahrnehmungen als Muster abgelegt und mit Bedeutung versehen sind.
Bei den fünf oben zuerst benannten Sinnen sind die Sinnesorgane offensichtlich (Auge, Ohr, Nase, Haut, Zunge). Für den Körpersinn – also unsere Orientierung im Raum über den Körper und dessen Haltung – nutzen wir zur Wahrnehmung zum einem das Tastgefühl (über die Haut) sowie das Gleichgewichtsorgan (im Ohr). Weniger offensichtlich (und zudem unbekannter), jedoch für den Körpersinn essentiell, sind die auch als „Tiefensensoren" bezeichneten Propriozeptoren** in Muskeln, Sehnen und Gelenken sowie vor allem in den Faszien, welche unser Gehirn ständig über Stellung, Spannkraft sowie Bewegung unserer Körperteile (im Wesentlichen auf Basis der Schwerkraft) informieren.
Wie bei den anderen fünf Sinnen ist für die Sinngebung ein im Körper angelegtes Erfahrungsgedächtnis von entscheidender Bedeutung. Unsere Sensomotorik gleicht die hereinkommenden Informationen mit „bekannten Werten“ (abgespeicherten Mustern) ab und richtet entsprechend neu aus. Die Propriozeptoren sind dabei von unschätzbarem Wert für diese Steuerung und Kontrolle von Bewegungen, damit unser sensomotorisches System (be-) ständig mit feinen spezifischen Reflexen reagieren kann. Unter ungünstigen Umständen, wie z.B. bei längerer einseitiger Belastung, können diese Reflexe zu Fehlhaltungen führen, die wir ebenfalls als Muster abspeichern und die in Muskulatur und/oder Faszien Verspannungen hervorrufen. Werden diese Muster zu gewohnten Mustern, weil sie immer und immer wieder aktiviert werden, werden sie immer unwillkürlicher und unbewusster. Schließlich betrachten wir sie als den Normalzustand und haben den Zugriff darauf „verlernt", wie es sich anfühlt, sich „frei" bewegen zu können.
Körpersinn und Sensomotorik lernen wir von Geburt*** an - laufen lernen auf zwei Beinen ist eine motorische Höchstleistung, die wir mit Bravour gemeistert haben: Durch tausendmaliges Hinfallen. Erfahrungen werden zu unterbewussten Mustern, und wir können uns darauf verlassen, dass z.B. unsere Kniegelenke sich beim Gehen beugen und strecken, ohne dass wir diesem Prozess direkte Aufmerksamkeit widmen müssen - sie sind zu einem Teil unseres Körpergedächtnisses geworden.
(Ganzheitliche) Körperarbeit verändert die Art und Weise unserer Bewegung (Bewegungsqualität). Wir schulen Wahrnehmung im Allgemeinen sowie Sensomotorik im Besonderen - dies führt zu einem verbesserten Körperbewusstsein: Können wir körperliche Symptome als Warnung vor Überlastung wahrnehmen? Was sagt uns unsere Körperhaltung über unsere mentale und seelische Verfassung? Ganzheitliche Körperarbeit macht dies anschaulich, und Ziel jeder Körperarbeit ist in der Regel die positive Beeinflussung unseres Muskel-, Faszien-, Nerven- und Energiesystems - all das verändert unsere äußere und innere Haltung (in Bezug zu uns selbst und unseren Umwelten) und damit die Bewegungsqualität.
* wir nehmen etwas für wahr
** Der Neurologe und Medizinnobelpreisträger Charles Sherrington zeigte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Muskeln und Sehnen mit einer Vielzahl Sinneszellen „ausgestattet" sind. Vom ihm stammen die Begriffe: Propriozeptoren (Rezeptoren zur Selbstwahrnehmung) sowie „Propriozeption" (Körpersinn).
*** und zuvor im Mutterleib